Freitag, 28. Februar 2014

Verschnaufpause

Gestern noch auf dem verschneiten Gotschnagipfel, Sonne auf der Nase, Wind um die Ohren - heute schon wieder im Ameisenhaufen London. Die Auszeit hat gut getan. Allerdings hat sich bei der Einreise in die Schweiz mit den englischen Freunden ein etwas schales Gefuehl breit gemacht, besonders stark bei der Zugfahrt durchs Rheintal. In einem abgelegenen Tal waren dann schon auch mal laut geaeusserte Kommentare zu hoeren: "Muesch no ufpasse, susch moemmer bald so Asylante bi ois i de Wohnig ufneh!" Leider wirklich so gehoert. Die Schweiz hat ihre Grenzen gesetzt, und entsprechend abfaellige Kommentare scheinen jetzt wieder salonfaehig zu sein. Das Konzept der Grenze habe ich menschlich-emotional noch nie verstanden, auch wenn ich den historischen, wirtschaftlichen und politischen Werdegang der Staatsgrenze durchaus intellektuell nachvollziehen kann. Zur Schoepfungstheologie steht sie aber im scharfen Widerspruch.

Am Mittwoch Morgen bin ich denn auch extra frueh zum Bahnhof St.Gallen gefahren, um mir einen Sitzplatz im 7:11 Zug zum Flughafen Zuerich zu sichern. Doch was fand ich vor? Einen fast leeren Zug. Nun sind zwei Szenarien moeglich: entweder ist die Rede von 'ueberfuellten Pendlerzuegen' masslos uebertrieben... oder der Durchschnittsschweizer sitzt tatsaechlich schon um 7:30 Uhr im Buero!

Ich bin gerne wieder in London, und traeume noch ein bisschen von den verschneiten Bergen, der Stille und Abgeschiedenheit, waehrend um mich herum wieder das Leben tobt. Good to be back!

Montag, 10. Februar 2014

Kontin-was?

Jemand hat mal zu mir gesagt, als Pfarrerin soll man sich mit parteipolitischen Stellungnahmen zurueckhalten. Ich fand das einen weisen Rat und habe ihn - zumindest auf der 'Kanzel' - konsequent befolgt. Seit Sonntag dem 9. Februar 2014 stelle ich diese Einstellung radikal in Frage. Die rechtspopulistische Initiative gegen die Masseneinwanderung in der Schweiz ist mit hauchduenner Mehrheit durchgekommen. Ich weiss nicht, wann ich mich letztes Mal politisch so ohnmaechtig gefuehlt habe, und ob ich ueberhaupt je in meinem Leben von meinem Heimatland so abgrundtief enttaeuscht war. Ich frage mich, wer alles zu diesem Ja beigetragen haben mag. Ich frage mich, was die Menschen sich eigentlich denken und ob das wirklich der Ort ist, in dem ich eigentlich ganz gerne aufgewachsen bin.

Ich schaeme mich. Ganz besonders als Theologin und Pfarrerin. Ich bin traurig fuer alle meine nicht-schweizerischen Freunde, die schon so lange in der Schweiz leben, und die ihren 'Auslaenderausweis' heute mit einem diffusen Gefuehl in die Hand nehmen und sich fragen, ob sie ins 'Kontingent' passen. Ich zittere mit all denjenigen, die noch in die Schweiz kommen und als Teil der 'Kontingentmasse' angeschaut werden - vor allem die Menschen, die eine schwierige Reise hinter sich haben und bei Null anfangen muessen. Ich leide aber auch mit allen mit, die so gegen diese Initiative gekaempft haben und heute wohl kaum aus dem Bett gekommen sind. Und dann fuerchte ich mich auch fuer das Land Schweiz, fuer die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen, die dieser Entscheid mit sich bringt. Doch das nur an zweiter Stelle.

Gastfreundschaft ist eines der hoechsten Gueter, die ein Mensch besitzt und das mindeste, was wir geben koennen. Niemand hat gesagt, dass Gastfreundschaft immer einfach ist. Gaeste koennen richtig nerven. Sie kommen zur falschen Zeit, machen sich breit, wollen genaehrt und betreut sein und brauchen den letzten Schluck Milch auf, den man eigentlich fuer die Cornflakes vorgesehen hatte. Die United Reformed Church hat in ihrem Begleitbuechlein 'Radical Welcome' auf die Herausforderung hingewiesen, die mit radikal offenen Tueren verbunden sind. Gewisse Menschen behagen uns nicht, sind so ganz anders wie wir, sind schwer zu fassen, verhalten sich anders - und das kann uns belasten. Als meine sechskoepfige Verwandtschaft aus Hamburg sich ueber Weihnachten bei mir eingenistet hat, hat meine Tante bei der freudigen Begruessung lachend zu mir gesagt: "Auf Besuch freut man sich immer zweimal: wenn er kommt und wenn er geht." Niemand hat gesagt, Gastfreundschaft sei einfach. Es gibt eine Uebergangszeit, in der die Gaeste auf uns angewiesen sind; je fremder das neue Umfeld ist, desto mehr. Das war schon immer Bestandteil der Gastfreundschaft. Wenn die Gaeste laenger bleiben, dann sind sie irgendwann keine Gaeste mehr, sondern unsere Nachbarn und Mitarbeiterinnen, unsere Vorgesetzten und Pfleger.

Die Gaeste, das sind auch wir. Wir nerven, wir machen uns breit, wir essen unserem Gastgeber das letzte Joghurt weg und wollen von ihm wissen, wie wir am besten von A nach B kommen. Die Gaeste, das sind wir. Wir sind im Weg und haben Hunger. Ich verstopfe jeden Tag die bereits verstopfte U-Bahn noch ein bisschen mehr. Ich belege Wohnraum in einer hoffnungsvoll ueberfuellten Stadt. Ich bin Teil eines Ameisenhaufens, in dem ich nicht aufgewachsen bin, und ich bin schon lange kein Gast mehr hier.

Ein Gutes hat das beschaemende Abstimmungsresultat: es mag als Warnschuss fuer Cameron wirken, denn die hiesige Politik rast auf aehnlich menschenverachtende Entscheide zu. Falls Cameron die naechsten Wahlen gewinnt, hat er dem Stimmvolk eine Abstimmung ueber das Verbleiben Grossbritanniens in der EU versprochen. Dahinter steckt der gleiche Hass auf 'Fremde', die kommen, um zu bleiben. Man kann nur hoffen, dass die EU so vehement auf die Verfassungsaenderung reagiert, dass andere Laender merken: so geht das nicht. So koennen wir nicht zusammen auf einem Kontinent leben, der seinen Reichtum auf der Armut anderer Weltregionen baut und deshalb konsequenterweise eine Verpflichtung zu Gastfreundschaft und Integration hat. Gaeste werden Freunde werden Nachbarn. Das gilt besonders fuer Europa, das eine uralte Tradition der Gastfreunschaft kennt.

Und die Kirchen? Wir muessen uns ueberlegen, wie es eigentlich mit der Kontingentierung in unseren Gemeinden steht. Sind wir radikal gastfreundlich oder sagen wir es nur? Lassen wir uns auf die anstrengenden Seiten des Gastegeberseins ein und veraendern uns dadurch, oder meinen wir nur diejengen, die aehnlich sind wie wir, so dass wir bleiben wie wir sind?

Jetzt erst recht: Kirche kennt keine Kontingente.