Dienstag, 6. Oktober 2015

Im Tempel der Kunst

Mäntig isch Pfarrer-Sunntig.
 
Diesen verbringe ich ganz besonders gerne im Museum. Meist gehe ich ins Tate Modern oder ins Tate Britain, wo ich Mitglied bin. Mit so einem Pass kann man in alle Spezial-Ausstellungen kostenlos rein, und am Montag hat man diese auch fast für sich alleine (bitte nicht weitersagen!). Das Tate am Montag ist meine Oase in der stets lärmigen, hektischen, Kräfte zerrenden Grossstadt. Im Tate am Montag geht  für mich die Tür zu einer anderen Welt auf. Bis vor ein paar Jahren war Kunst für mich eher unbekanntes Terrain. Mein Horizont war das kreative Werk meiner Schwester Alexandra, die kräftigen Farben und ausdruckstarken Frauengestalten, die bis heute mein Referenzpunkt geblieben sind. Doch mit meinem Tate-Pass in der Hand habe ich mich mittlerweile auch in neue Gefilde vorgewagt. 

Alexandra Maurer


Heute gehe ich ins Museum, weil ich meistens keine Ahnung habe, was hinter einem Namen steckt. Ich weiss nicht, was mich erwartet, und ich will es auch gar nicht so genau wissen. Wenn mich die Ausstellung nach eineinhalb Stunden dann wieder ausspuckt, habe ich nicht nur ein paar Bilder gesehen, sondern auch eine Künstlerin und eine Epoche kennengelernt , sowie einen interessanten Dialog mit mir selber geführt. Und das ganze für £63 pro Jahr! Ist ja geschenkt.

Gestern wagte ich mich in die komplett unbekannte Welt der
Künstlerin Agnes Martin. Wahrscheinlich Französin, dachte ich mir so. Irgendwas Abstraktes. Und habe mich schon auf eine schöne Tasse Tee im Kaffee mit Blick über die Themse auf St Paul's Kathedrale gefreut. Linien, Quadrate, Gitter in immer wieder neuen Anordnungen auf überdimensionalen Leindwänden. Weiss in weiss, grau in grau, pastellfarben, unterteilt, strukturiert. Eine Frau, die sich während Jahrzehnten in die Wüste New Mexicos zurückgezogen hatte (Amerikanerin, nicht Französin), mit ganz wenig Kontakt zur Aussenwelt, und die unter Schizophrenie litt. In der Wüste zeichnete sie Linien und Gitter. Immer und immer wieder bis zu ihrem Tod vor zehn Jahren. Sie war der östlichen Philosophie zugeneigt. "Martin believed in art as a realm of transcendent experience, much like nature itself", las ich auf einer Wand. Und genau das erreichte sie auch mit ihren geometrischen, grossflächigen Gemälden: sie sog mich ganz und gar hinein in ihre Linien und Quadrate, wie eine warme Dusche für die Augen, wunderbar beruhigend, meditativ schon fast. Alles war plötzlich so geordnet und klar. Ich habe gleich noch eine zweite Runde gedreht.



Agnes Martin



Agnes Martin


Was mich an meiner neuen Leidenschaft besonders fasziniert: Ich war eigentlich noch nie in einer Kunstausstellung ohne explizite oder implizite Referenz zu Religion und Spiritualität. Marina Abramovic hat das mit ihrer Ausstellung '512 hours' in der Serpentine Gallery so richtig unheimlich auf die Spitze getrieben. Nach hoffnungsvollem und heilserwartendem dreistündigen Schlangestehen wurde der Besucher/die Besucherin endlich in die heiligen Hallen der Künstlerin vorgelassen, wo es dann eigenartig spirituell zu und her ging. Wildfremde Menschen gaben sich auf einem grossen Holzkreuz stehend die Hand, andere warteten gespannt auf die Anwesenheit der Erlös.. äh... Künstlerin, wieder andere trennten in stundenlanger Sisyphusarbeit Reiskörner von Erbsen. Die Kunstgalerie als Tempelersatz.

Danach war mir nach einer Tasse Tee zumute. Dabei im Gras liegen, in den blauen Himmel schauen und den heiligen Pfarrer-Sunntig ausklingen lassen. Der schönste Tempel von allen.


Marina Abramovic (Schlange stehen vor der Galerie)

 
Marina Abramovic (links)