Dienstag, 17. November 2015

Wo unser Herz schlägt

Gestern Abend war ich an einem Pop Konzert in einem lokalen Pub in Finsbury Park. Jeden Montag treten hier junge Bands auf. So spielten auch gestern wieder zwei Bands. Rund 30-40 Menschen fanden sich ein, um Musik zu hören und Zeit miteinander zu verbringen. Zweiundsiebzig Stunden davor taten zehntausende von Menschen in Paris und anderen Städten dasselbe, 89 davon zahlten in einer Konzerthalle dafür mit ihrem Leben, niedergemetzelt in einer sinnlosen Terrorattacke. Das ging wohl allen durch den Kopf gestern Abend im Finsbury Pub. Ich hatte keine Angst, aber die Was-Wäre-Wenn-Bilder waren in meinem Kopf, und sie werden wohl in ähnlichen Situationen in der Bar oder im Restaurant um die Ecke noch lange nachklingen.

Viele Menschen haben sich im Zuge der Attentate in Paris darüber geärgert, dass die Massaker in Paris eine heftigere Reaktion und mehr Mitgefühl auslösen als zum Beispiel der Absturz eines russischen Flugzeugs über der Wüste Sinai oder Massaker in Afghanistan, Nigeria oder Libanon. Im gleichen Atemzug wird dann behauptet, dass wir Menschenleben unterschiedlich werten. Es ist schon so, auf mich haben die Attentate in Paris einen grösseren Effekt als anderswo. Wie oft bin ich schon durch die Strassen und Gassen der französischen Hauptstadt flaniert, bin in einem Cafe gesessen und habe den Menschen zugeschaut, in einer Bar das erste Apero genommen und dann in einem der vielen Restaurants im Marais Moules Frites gegessen. Wenn ich an Paris denke, denke ich an meine erste grosse Liebe und den ersten grossen Liebeskummer, romantische Abende mit meinem Liebsten und späte Nächte mit meiner besten Freundin. Ich denke an unseren eintägigen Seniorinnenausflug mit den Frauen der Swiss Church, das Lachen und Fröhlichsein, die Sonne im Gesicht und die Freundschaft. Ja, Paris trifft mich persönlich, seelisch und körperlich, wie so viele andere auch, und deshalb kommt es so nahe an uns ran. Es sind die alltäglichen Dinge, die ich auch hier in London mache, die Bars und Restaurants, die Konzerthallen, die ausgelassene Stimmung und immer wieder die Liebe. In Russland war ich auch schon zweimal, und ich habe auch russsische Freunde, die mir nahe stehen. Und doch ist mir diese Kultur nicht ganz so nahe. Ich kann das nicht ganz so real mir Herz und Seele nachvollziehen, weil ich weniger Emotionen mit diesen Orten verbinde. In Kenia, Irak und Afghanistan war ich noch nie. Meine einzige emotionale Bindung an Afghanistan ist die kleine gewobene Umhängetasche, die bei meinen Eltern an der Schranktür hängt. Meine Eltern waren in ihren jungen Ehejahren von Australien über den Landweg nach Europa zurück gereist, auch durch Afghanistan, und ihr Kummer ist auch mein Kummer. Oft haben wir uns zusammen die Diabilder angeschaut.

Ja, Paris geht mir unter die Haut. Paris geht vielen von uns unter die Haut, weil wir so viele Erinnerungen haben, die Emotionen wecken, und weil wir uns diesen Freitagabend so lebhaft vorstellen können. Kann deshalb die Schlussfolgerung gezogen werden, dass uns Menschenleben in anderen Städten und auf anderen Kontinenten weniger bedeuten? Das glaube ich nicht. Im Gegenteil. Wir können jetzt vielleicht noch besser mitfühlen, uns noch besser hineinversetzen, auch in andere Kontexte, die uns emotional weniger treffen. Vielleicht verstehen wir die Menschen in diesen fernen Ländern etwas besser, die Panik, die den Alltag prägt, weil es unserem eigenen Alltag plötzlich so nahe kam.

Popmusik war in ihren Anfängen und vor ihrer Kommerzialisierung eine Befreiungsbewegung. Sie brachte das Lebensgefühl einer Generation zum Ausdruck, die sich aus den engen Korsetten vergangener Konventionen befreite. Als ich gestern Abend im Finsbury Pub stand, fühlte ich diese Freiheit. Wir sind befreit zu Respekt, Liebe und Gleichheit, und alle Menschen, die sich als Teil dieser Freiheit verstehen und aus ihr heraus handeln, sollten jetzt zusammenstehen statt sich gegenseitig Vorwürfe zu machen und vorschnelle Schlussfolgerungen zu ziehen. Betet, feiert, singt und tanzt, liebt und umarmt euch, weint und lacht in Paris, Nairobi, Baghdad und überall, wo euer Herz schlägt. Denn da, wo unser Herz schlägt, da wo wir lieben, da können wir mitbauen an Nachbarschaften, Freundeskreisen und Gemeinschaften, die von Toleranz und Liebe getragen sind. Wendet euch einander zu statt voneinander ab.